RWTH

Dr. Nazife Isik Semerci forscht mit einem Georg-Forster-Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung an der RWTH Aachen In Oliven steckt für Dr. Nazife Isik Semerci nicht nur ein Kern, sondern vor allem auch enormes Potenzial. Dabei meint die Expertin für Chemische und Technische Verfahrenstechnik allerdings nicht die Frucht, sondern das, was am Ende des Genusses übrigbleibt: die angesprochenen Kerne und Bäume.

Eigentlich ist Nazife Isik Semerci Associate Professorin mit dem Forschungsfeld Umwandlung von Biomasse in Brennstoffe und Chemikalien an der Universität Ankara. Seit Ende März ist sie mit einem Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung bis Ende August 2025 an der RWTH Aachen, um ihre Forschung fortzuführen. Genauer gesagt ist sie als Gastwissenschaftlerin mit einem Georg-Forster-Stipendium der Stiftung an der Aachener Verfahrenstechnik bei Dr. Jörn Viell, Gruppenleiter der Systemverfahrenstechnik im Center for Next Generation Processes and Products (NGP2) und Leiter der NGP2 Bioraffinerie.

Sie ist eine von insgesamt 31 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an der RWTH, die eine Förderung durch die Alexander von Humboldt-Stiftung erfahren. Das Spektrum reicht von AvH-Professuren bis zu Stipendien und Preisen. Für ein Georg-Forster-Stipendium, benannt nach dem deutschen Naturforscher und Ethnologen, können sich Forscherinnen und Forscher aus Entwicklungs- und Schwellenländern bewerben. Es richtet sich explizit an erfahrene Forschende.

Semerci kommt aus der Türkei. Das Land hat sich in den vergangenen Jahrzehnten von einer Agrarwirtschaft zu einer stärker industrialisierten und dienstleistungsorientierten Wirtschaft gewandelt. Dieser Übergang wurde von einer raschen Urbanisierung und Modernisierung begleitet. Der 2021 gestartete türkische Green-Deal-Aktionsplan sichert die Energieversorgung und eine nachhaltige Landwirtschaft, die den Übergang zu einer nachhaltigeren und widerstandsfähigeren Zukunft ermöglicht.

Hier setzt Semercis Forschung an. In den vergangenen 15 Jahren hat sie sich auf das Gebiet der (lignocellulosen) Biomasseverwertung mit ionischen Flüssigkeiten konzentriert. Solche Flüssigkeiten, die noch dazu weniger giftig sind und damit geringere Umweltauswirkungen haben als organische Lösungsmittel, können die komplexe Struktur von Biomasse aufbrechen und machen die einzelnen Bestandteile von Biomasse für anschließende Umwandlungsprozesse leichter zugänglich. Dies ermöglicht letztendlich die Produktion biobasierter Alternativen zu herkömmlichen, auf Basis von Erdöl hergestellten Produkten und kann die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen verringern.

Es ist ein sehr nachhaltiger Ansatz, den Semerci nun in den Laboren und in hochskaliertem Maßstab der NGP2 Bioraffinerie der Aachener Verfahrenstechnik verfolgen kann. Konkret verwendet sie in ihrem Forschungsprojekt ein aus Biomasse gewonnenes Lösungsmittel (Gamma-Valerolacton, kurz: GVL) zur Vorbehandlung der Biomasse. Dieses GVL ist im Vergleich zu konventionellen Lösungsmitteln aufgrund der vorherrschenden Produktionsmethoden noch vergleichsweise teuer und wird mangels Wirtschaftlichkeit selten eingesetzt. Ließe sich GVL effizient recyceln und entsprechend mehrfach verwenden, würde sich auch die Wirtschaftlichkeit einstellen. Diese geht einher mit den zum Teil hochpreisigen Anwendungen, insbesondere der GVL-Herstellungsroute. Das macht wiederum die Industrie neugierig. „Wir beobachten ein Umdenken insbesondere in der chemischen Industrie“, erläutert Jörn Viell.

Seit ihrem Studium an der Middle East Technical University in Ankara haben Nazife Isik Semerci die Wechselwirkungen zwischen ionischen Flüssigkeiten und Biomasse beschäftigt, und sie hat sich intensiv mit den Arbeiten dazu an der AVT und von Dr. Jörn Viell auseinandergesetzt. Dort ist sie nach weiteren Besuchen in Deutschland und England nun Teil des Teams. „Es war schon lange einer meiner größten Wünsche, mit diesen Personen in der AVT zusammenzuarbeiten und Einblicke in die Bioraffinerie und die Verfahrenstechnik zu gewinnen“, sagt sie.

Die AVT, 2007 als Zusammenschluss der Lehrstühle Bioverfahrenstechnik, Prozesstechnik, Chemische Verfahrenstechnik, Mechanische Verfahrenstechnik und Thermische Verfahrenstechnik gegründet, hat sich dem Transfer von fossilen zu erneuerbaren Rohstoffen verschrieben, ist beispielsweise am Exzellenzcluster The Fuel Science Center von Beginn an (damals: Tailor-made Fuels from Biomasses) vertreten. Der Aufbau der Bioraffinerie hat eine einzigartige Forschungsinfrastruktur geschaffen. Theoretische Arbeit, Analyse und Experimente laufen hier Hand in Hand. „Wir können hier die gesamte Kette von der Biomasse bis zur fertigen Chemikalie erforschen“, erläutert Jörn Viell. „Die Bioraffinerie war ein wichtiger Meilenstein für die Prozessforschung und demonstriert die Machbarkeit.“

Georg-Forster-Stipendien sollen am Ende dazu führen, dass die Heimatländer der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler profitieren. Und damit zurück zu den Oliven: Die Türkei ist der weltweit viertgrößte Olivenproduzent. Bislang wurde Olivenfrüchte und ihre Biomasse aber nicht als Ausgangsmaterial für die Herstellung von nachhaltigen Plattformchemikalien unter Verwendung von GVL untersucht. Das Potenzial sei enorm, berichtet Semerci. Im Labor und der NGP2 Bioraffinerie wird sie es untersuchen.