Alles rund um Aachen

Das bestgehütete Geheimnis dieser Frühlingstage in Rom war bis zuletzt die Rede des Papstes. Am Ende erfüllten die Worte, die er in der prachtvollen Sala Regia im Apostolischen Palast des Vatikans am heutigen Mittag (6.5.16) sprach, jede Erwartung, sie waren Dank, Kritik und Ermutigung zugleich. Dank für die Ehre, mit dem Internationalen Karlspreis zu Aachen ausgezeichnet zu werden. Kritik am derzeitigen Zustand der Europäischen Union, und Ermutigung wie Ansporn, das Blatt zum Guten zu wenden und die richtigen, die den Menschen zugewandten Schwerpunkte zu setzen.

"Hoffnung für das Leben"
"Ich träume von einem jungen Europa, das fähig ist, noch Mutter zu sein: eine Mutter, die Leben hat, weil sie das Leben achtet und Hoffnung für das Leben bietet", sagte der Papst am Ende seiner Rede, in der er diverse positive Szenarien unter dem Stichwort "Ich träume von einem Europa..." auflistete. Darin auch diese Vision: "Ich träume von einem Europa, in dem das Migrantsein kein Verbrechen ist, sondern vielmehr eine Einladung zu einem größeren Einsatz mit der Würde der ganzen menschlichen Person."

Der Gedanke an eine Mutter Europa, die ihre Lebens- und Glaubenswurzeln und ihre Haltung  hat, durchzog leitmotivisch die Worte des Karlspreisträgers: "Es bedarf eines ständigen Weges der Humanisierung", und dazu brauche es Gedächtnis, Mut und eine gesunde menschliche Zukunftsvision.

Ein neuer Humanismus
Papst Franziskus rief zu einem neuen Humanismus auf: Bei der Integration reiche die bloße geografische Eingliederung der Menschen nicht aus, die Herausforderung bestehe in einer starken kulturellen Integration. "Das Gesicht Europas unterscheidet sich nämlich nicht dadurch, dass es sich anderen widersetzt, sondern dass es Züge verschiedener Kulturen eingeprägt trägt und die Schönheit, die aus der Überwindung der Beziehungslosigkeit kommt", sagte der Papst.

Über 200 Journalisten aus ganz Europa
Rund 500 Gäste verfolgten gebannt die Preisverleihung in der Sala Regia  (darunter 450 aus Aachen), über 200 Journalisten aus ganz Europa berichteten von vor Ort, zahlreiche TV-Stationen übernahmen die Live-Bilder des Vatikanischen Fernsehens, darunter auch ZDF, Bayrischer und Westdeutscher Rundfunk.

Aachens Oberbürgermeister Marcel Philipp gehörte wie die Präsidenten der Europäischen Institutionen, Martin Schulz (Parlament), Jean-Claude Juncker (Kommission) und Donald Tusk (Rat), zu den Festrednern. Der Vorsitzende des Karlspreisdirektoriums, Dr. Jürgen Linden, verlas die Urkunde und markante Passagen  aus der Begründung des Direktoriums für die Verleihung des Preises an Seine Heiligkeit Papst Franziskus. Darin stellt das Direktorium den Papst als "einen Mahner und Mittler" heraus: "Sie sind eine Stimme des Gewissens, die uns mahnt, bei all unserem Tun den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen."

Philipp fordert Respekt und Vertrauen
Philipp, der in seiner Begrüßungsrede die moralischen Grundlagen Europas beschrieb und sich einen Kontinent wünschte, "in dem Vertrauen, Respekt und Barmherzigkeit nicht verloren gehen dürfen", stellte in seiner sehr analytischen Rede klar: "Fragen einer gemeinsamen Haltung und Hilfe in globalen Krisenherden und bei der Migration müssen gelöst werden. Aber Lösungen für derartige Fragen benötigen ein Fundament, das heute nicht mehr vollständig vorhanden ist. Dieses Fundament ist das gemeinsame Bewusstsein für die europäischen Werte und für die Lehren aus der Geschichte eines über Jahrhunderte in Kriegen versunkenen Kontinents. Die Werte, die es wieder zu entdecken und zu stärken gilt, sind ganz wesentlich christliche Werte."
 
Der Aachener Oberbürgermeister, der einen Gruß in den Aachener Krönungssaal schickte, in dem über 700 Gäste die Übertragung aus Rom live verfolgten, sprach von einer "Erosion des kulturellen und moralischen Fundamentes in Europa". Und weiter: "Rechtsextreme Parolen und Strukturen der Renationalisierung dringen in die Mitte der Gesellschaft vor, der veränderte Umgang mit Medien blendet in weiten Teilen die Wirklichkeit aus. Das Konsumverhalten des reichen Europas ist beschämend, in Teilen zerstörerisch. Und plötzlich klopft die Globalisierung an unsere Tür. Sie hat ein Gesicht, und es sieht anders aus, als wir vor Monaten noch geglaubt haben. Es schaut uns an und berichtet von Furcht, Vertreibung, Armut, Hunger, von Krankheit, Krieg und Tod." Die Hoffnung Philipps und des Direktoriums, Ermutigung für Europa in Rom bei Papst Franziskus zu finden, ging voll auf.

Bundeskanzlerin Angela Merkel, Spaniens König Felipe, die litauische Staatspräsidentin Dalia Grybauskaite, Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi und viele ehemalige Karlspreisträger verfolgten die Preisverleihung. Zu den ehemaligen Preisträgern gehörten der Gründer der Glaubensgemeinschaft Sant'Egidio, Andrea Riccardi, der ehemalige EU-Parlamentspräsident Pat Cox, der ungarische Schriftsteller György Konrád, der Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, der ehemalige spanische Ministerpräsident Felipe Gonzalez und der luxemburgische Großherzog Jean.

Die drei EU-Präsidenten im Gleichschritt
Drei weitere Karlspreisträger erfuhren bei ihrem gemeinsamen Rede-Auftritt hohe Aufmerksamkeit und ernteten Beifall. Die Präsidenten der europäischen Institutionen, Martin Schulz (Parlament), Donald Tusk (Rat) und Jean Claude Juncker (Kommission) nutzten die große Karlspreisbühne im Vatikan, um ihre europäischen Ansichten zu formulieren.

Schulz warnte vor "nationalen Egoismen, Renationalisierung und Kleinstaaterei". Er stellte Europas epochale Herausforderung in der Flüchtlingsfrage in den Vordergrund seiner Betrachtungen: "Seit dem Zeiten Weltkrieg waren zu keinem Zeitpunkt weltweit mehr Menschen auf der Flucht als heute. Doch Populisten treiben ihr böses Spiel; sie suchen nicht nach Lösungen, sondern schüren Ängste."

Der Karlspreisträger des Vorjahres brachte es auf den Punkt: "Europa durchlebt eine Solidaritätskrise. Unsere gemeinsame Wertebasis gerät ins Wanken." Sein Appell: "Jetzt ist es an der Zeit für Europa zu kämpfen. Jetzt müssen alle Europäerinnen und Europäer aufstehen und sich zu Europa bekennen."

Papst Franziskus lobte Schulz für seine "gelebte Solidarität und Menschlichkeit". Der beste Beweis sei sein Besuch auf Lesbos gewesen, von wo der Papst drei syrische Familien mit in den Vatikan genommen hatte, um ihnen Schutz zu gewähren.

Schulz stellt große Leistung der Freiwilligen heraus
Großes Lob zollte der Parlamentspräsident den "zehntausenden, hunderttau senden Freiwilligen, die in Lesbos, Lampedusa, München und anderswo den Männern, Frauen und Kindern, die auf der Flucht vor dem Krieg und auf der Suche nach Schutz zu uns kommen, Wasser und Brot reichen, Kleider und Decken an sie verteilen. Wenn ich diese Menschen sehe, dann ist mir um Europas Zukunft nicht bange. Denn diese Menschen füllen die europäischen Werte der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Achtung der Menschenwürde mit Leben."

Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker unterstrich, dass ein lebendiges Europa mehr sei "als Institutionen, Indikatoren oder Prozesse, mehr als eine ökonomische Zweck-Gemeinschaft. Europa – das ist für mich die Vereinigung der Kräfte: für Menschlichkeit und für einen Frieden, der im Alltag beginnt."

Juncker spricht die jungen Europäer an
Juncker machte Europa greifbar: "Europa – das ist der Student, der mit Erasmus in einem anderen Land studiert, die Wissenschaftlerin, die in einem europäischen Netzwerk forscht und der Unternehmer, der überall in der Europäischen Union handelt. Dieses Zusammenwirken der Menschen über Grenzen hinweg, verwebt uns immer enger miteinander und schafft so einen Frieden, der weit über alle Verträge hinausgeht."
Und an den Papst gerichtet sagte der Präsident: "Europa ist das gelebte Bekenntnis zur Würde des Menschen, zu Miteinander und sozialem Frieden."
Das europäische Projekt habe sich nicht überholt, es sei aktueller denn je, Juncker. "Wir müssen also Schwierigkeiten anpacken, um sie zu überwinden und sich der Geschichte nicht zu unterwerfen, sondern sie zu gestalten. Das schulden wir unseren jungen Europäerinnen und Europäern. Sie haben sich entschieden, die Intoleranz zurückzuweisen und unsere Lebensweise in all ihrer Vielfalt zu verteidigen, unsere demokratischen und offenen Gesellschaften, in denen wir die Freiheit des Denkens und des Reisen genießen können – vereint in unserer Vielfalt." Am Ende sein Appell:  "Europa beflügelt immer noch die Träume – also, ihr alten Europäer, hört die Stimme von Papst Franziskus, wacht auf! Vereinen wir unsere Energien, unsere Talente, unsere Herzen, um die zahlreichen Krisen unserer Zeit gemeinsam zu überwinden!"

Tusk beschwört den Geist der Liebe und der Freiheit
Ratspräsident Donald Tusk hob auf seine Vision von einer idealen Kirche ab, "die niemanden ausschließt, sondern vielmehr alle einschließt. Eine Kirche, die auf Prunk verzichtet, um den Armen zu helfen; eine Kirche, die den Menschen und ihrer Freiheit eher vertraut als der Allmacht und dem Allwissen von Institutionen; eine Kirche, die Menschen, deren Leben zerrüttet ist, Hoffnung und nicht Verdammung bringt".

Und wie sieht Tusks Europa aus? Pointiert stellte er es so dar: mitfühlend und hilfsbereit, gegründet auf die zutiefst christlichen Grundsätzen der Menschenrechte, der bürgerlichen Freiheiten und der Achtung eines jedes Menschen.

Europa verdiene, "dass wir uns um es sorgen und es notfalls schützen oder verteidigen. Weil hier noch immer der Geist der Liebe und der Freiheit zu spüren ist."

Domchor gestaltet Verleihung musikalisch
Die vom Aachener Domchor (Leitung Berthold Botzet) feierlich umrahmte Preisverleihung war geprägt von der Einzigartigkeit des Ortes, von den politischen Botschaften und vor allem von der Freundlichkeit, Herzlichkeit und Klarheit des Papstes.