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„Literaten müssen der so genannten heilen Welt die Oberfläche abziehen“, sagte die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck im Aachener Ludwig Forum. Sie hat genau das nicht zuletzt in ihrem jüngsten Roman „Gehen, ging, gegangen“ getan und wurde jetzt (6. November) dafür mit dem 20.000 Euro dotierten Walter-Hasenclever-Literaturpreis der Stadt Aachen 2016 ausgezeichnet. Bereits am Vortag hatte Jenny Erpenbeck im Ludwig Forum eine Lesung gegeben. Eine weitere Lesung der Berliner Autorin sowie eine Diskussionsrunde mit Schülern finden aktuell im städtischen Einhard-Gymnasium statt.

Foto  © Stadt Aachen, Andreas Herrmann.
Olaf Müller, Leiter des Kulturbetriebs der Stadt Aachen, Barbara Schommers-Kretschmer, Vorsitzende der Walter-Hasenclever-Gesellschaft und der Jury, Preisträgerin Jenny Erpenbeck sowie Dr. Margrethe Schmeer, Bürgermeisterin der Stadt Aachen

Nahtstelle, an der Gültiges aufgegeben und Neues gewagt werden muss
Die Jury des Walter-Hasenclever-Literaturpreises hatte sich von Erpenbecks „gedanklicher Klarheit, stilistischer Prägnanz und rhythmischer Sprache“ im Gesamtwerk überzeugen lassen, wie Doris Lauer, Kulturschaffende, Literaturkritikerin und Mitglied der Walter-Hasenclever-Gesellschaft, in ihrer Laudatio bemerkte. „Sie blickt aber immer auch an die Nahtstelle, an der Gültiges aufgegeben und Neues gewagt werden muss.“

Dass dies besonders für ihren 2015 erschienenen Roman „Gehen, ging, gegangen“ gilt, zeigte sich in Erpenbecks emotionaler Dankesrede. Zunächst erinnerte sie an den nigerianischen Geflüchteten Bashir Zakaryau, der sich als Protestanführer eines Berliner Flüchtlingscamps für seine Mitgeflüchteten und gegen die europäische Asylpolitik einsetzte und damit die Vorlage für eine der Figuren in Erpenbecks Roman lieferte. „Nach vier europäischen Jahren, nach vier Jahren ergebnislosen Handelns ist er an seiner Herzkrankheit gestorben“, sagte die Preisträgerin, hörbar mitgenommen von dem Tod Zakaryaus. „Man kann am Fremdsein, an Verzweiflung und an einer ausbleibenden Zukunft sterben.“ Dafür lieferten viele Literaten, nicht zuletzt Hasenclever selbst, der sich 1940 in einem französischen Internierungslager das Leben nahm, dramatische Beispiele.
Zugleich forderte sie die Solidarität der europäischen Gesellschaften ein: „Wir haben das Vermögen verloren, mitzufühlen. Wir hassen andere, um uns selbst in ihren Schicksalen nicht wiederzuerkennen. Vor unserer Haustür verachten wir Talente, Möglichkeiten, Menschsein. Das kostet uns unsere Unschuld.“  

In der Tradition von Walter Hasenclever und Albert Camus
Neben der literarischen Qualität, die die 49-jährige Autorin seit ihrem Debüt 1999 auszeichnet, wollte die Jury auch ihr Hinschauen auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen, ihre Solidarität mit den Geflüchteten ehren. „Dieser Preis  ist 2016 eine Auszeichnung für politisch motivierte Literatur“, schlussfolgerte Bürgermeisterin Dr. Margrethe Schmeer in ihrem Grußwort. Damit stehe Erpenbeck – darin waren sich alle Rednerinnen einig – in der Tradition von Walter Hasenclever, aber auch in der des Literaturnobelpreisträgers Albert Camus. „Camus forderte des Literaten Dienst an der Wahrheit und an der Freiheit“, sagte Lauer. „Das Schicksal von Menschen müsse sie aus ihrem heilen Künstlerdasein reißen und deren Schweigen hörbar machen mit den Mitteln der Kunst.“