Alles rund um Aachen

StädteRegion Aachen. Stille im Zuschauerraum des Grenzlandtheaters Aachen. Die Menschen sind gebannt von der Geschichte, von denen, die sie erzählen und wie sie das tun. Bilder erwachen in den Köpfen, Gefühle und eigene, sehr persönliche Erinnerungen. Im Rahmen des Kulturfestivals X der StädteRegion Aachen, das noch bis zum 17. September ein facettenreiches Programm mit Konzerten, Soloprogrammen und Fotografie-Ausstellungen bietet, gingen Schauspielerin Barbara Auer und ihr Kollege Walter Sittler auf die spartanische, stimmungsvoll blau ausgeleuchtete Bühne.

Zwei Tischchen, zwei Stühle, zwei Manuskripte, zwei Gläser Wasser und eine sensible Lichttechnik – genug, um aus der szenischen Lesung zu Kent Harufs Roman „Unsere Seelen bei Nacht" einen besonderen Abend zu zaubern. 90 Minuten ohne Pause, danach springen die Menschen auf, um sich zu bedanken.

Der US-amerikanische Schriftsteller (1943-2014) starb nach schwerer Krankheit, bevor sein berührender Roman erscheinen konnte. Es nicht nur sein letztes, sondern – wie seine Ehefrau Cathy bestätigt – auch sein wichtigstes Werk. Er schrieb daran bis kurz vor seinem Tod. Der autobiographische Gehalt schwingt in jedem Wort mit, warm und ehrlich. „Ich werde ein Buch über uns schreiben", hatte Haruf April 2014 seiner Frau eröffnet. Und er hat es getan. Bereits 2017 wurde das Werk erfolgreich verfilmt. Robert Redford und Jane Fonda spielten die Hauptrollen.

Die ungewöhnliche Liebesgeschichte über eine Frau und einen Mann, die bereits ein Leben gelebt haben, spielt in der Kleinstadt Holt, einem fiktiven Ort, der in allen Werken Harufs auftaucht. Addie Moore ist verwitwet, Louis Waters gleichfalls. Sie kennen sich eher flüchtig – als Nachbarn eben. Das Alleinsein bekommt beiden nicht mehr, und Addie wagt den ersten Schritt. Sie fordert Louis auf, hin und wieder bei ihr zu schlafen. Nebeneinander im Bett, gemütlich, vertraut, Zeit zum Reden. Sex? Der spielt zunächst keine Rolle, obwohl die Anziehungskraft besteht. Es geht um Hinwendung, Lebenswert, sogar erfrischenden Spaß, und es wird eine besondere Liebe daraus.

Barbara Auer und Walter Sittler verkörpern wie selbstverständlich diese beiden Menschen. Es ist ein vertrauter Austausch, eine vorsichtige, staunende und offene Annäherung, denn für beide gilt es, innere Schranken zu überwinden. Wer sie anschaut, ihnen zuhört, erlebt den wunderbaren Weg zu Freundschaft und Liebe, der den Respekt voreinander wahrt. Wenn sich Barbara Auer das Haar zurückstreicht und lächelnd aufschaut, Walter Sittler ein verlegenes Lächeln zeigt, das in der Stimme mitschwingt, sich räuspert, beide mal leiser oder mal kräftiger sprechen, blühen die Texte auf.

In schlichten Gesten liegen alle Gefühle – auch Protest und Verzweiflung, als das Umfeld irritiert und sogar empört reagiert, die eigenen Kinder kein Verständnis für die neu entdeckte Nähe der beiden Menschen zueinander haben, die sich brauchen und sich aus dunkler Traurigkeit retten. Alles ist irgendwie alltäglich, doch erhält es durch das Miteinander neuen Glanz. Addie und Louis entdecken das diebische Vergnügen am Spiel mit der bürgerlichen Engstirnigkeit. Wenn Louis mit Pyjama und Zahnbürste vor Addies Hintertür steht, ist das schon ein bisschen skurril. Das gehört dazu. Gleichfalls die Selbstzweifel, die bald von einer neuen Dynamik weggefegt werden

Kent Haruf schreibt mit Einfühlungskraft und vielen feinen Details über das Leben – wie es sein könnte und ist. Zwei Menschen wagen den Schritt aus der Konformität und blühen auf. Die beiden dort auf der Bühne strahlen es aus, wirken gar nicht mehr wie Schauspielerin und Schauspieler in Rollen, sondern nehmen mit ganzer Persönlichkeit lebbare Charaktere an.

Das Publikum ist hingerissen, freut sich mit ihnen, amüsiert sich über kleine Tücken, die auch diese Beziehung hat, ist berührt von all dem Persönlichen, das in langen Nächten die vertrauten Gespräche prägt. Selbst der spätere zermürbende Prozess einer unfreiwilligen (Fast-) Trennung wird nachvollziehbar, der Argwohn der Kinder, Eifersucht, sogar Sorge um das Erbe. Kehren sich die Rollen um? Wollen die erwachsenen Kinder über die Eltern bestimmen? Tun sich alte Wunden und Abgründe auf? Babara Auer und Walter Sittler springen lesend mühelos in die Rollen von Sohn und Tochter, die Stimmen werden plötzlich kühl, genervt, angriffslustig oder schwächlich – je nach Person. Und man begreift sofort.

In ihrer ruhigen Intensität und „professionellen Natürlichkeit" schaffen es Barbara Auer und Walter Sittler, selbst die weniger schönen Episoden stimmig in die Geschichte einzufügen. Hier sind zwei, die ehrlich miteinander umgehen, aussprechen, was sie niemals aussprechen durften, die keine Fassade mehr zulassen. Und doch ist da eine liebevolle Distanz, selbst in intimsten Momenten.

Irgendwann trennen sich die Wege, allerdings unfreiwillig. Addie lebt in einer Seniorenresidenz, Louis bleibt in seinem Haus. Dann klingelt in der Nacht sein Telefon. Es geht weiter mit den beiden, so oder so. Und wenn sie ihn fragt: „Ist es bei Dir kalt, Liebling?" atmen alle auf. Ein großer Abend mit 90 spannungsreichen Minuten. Euphorischer Applaus. Für Barbara Auer, Walter Sittler, Kent Haruf und das Kulturfestival X.

Zum Nachlesen:

Kent Haruf: Unsere Seelen bei Nacht. 208 Seiten Diogenes Verlag Zürich, 20 Euro.

Info:

Alles zu den weiteren Veranstaltungen im Rahmen des KulturfestivalX der StädteRegion Aachen gibt es unter:

https://www.staedteregion-aachen.de/kulturfestival