Stolberg

Ämterweise: ‚Vorschläge, um der weiteren Verwahrlosung der Jugendlichen Einhalt zu gebieten‘ 1945 (Akte des Jugendamtes) Eine Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist, historische Vergleiche zu ziehen. Kongruent sind die verglichenen Subjekte nie und so manchem Politiker wurden Kriegsvergleiche bezüglich der Corona-Pandemie übelgenommen. Die Unterschiede sind eklatant und liegen auf der Hand. Doch manche Phänomene der Krisenzeiten ähneln sich.

 „Die beste Lösung wäre, die Schulen wieder zu öffnen“, formulierte Jugendamtsbeamter Kessels am 7. März 1945 prägnant gleich am Eingang seines Schreibens an die US-Militärregierung, das Archivale des Monats März. Das Dokument der Akte ST 4047 entstand zu einer Zeit, als Stolberg längst befriedet war und der Krieg unaufhörlich gen Berlin rückte. Die Wiederherstellung der Infrastruktur war hier bereits angelaufen, doch die meisten Stolberger Bürger verharrten noch in ihren Evakuierungsorten fern der Heimat. Mit Bedauern nahm man im Stolberger Jugendamt die Verwahrlosung der verbliebenen Jugendlichen zur Kenntnis, da sämtliche Einrichtungen durch die Kriegsereignisse geschlossen waren. Fünf Forderungen formulierte der Verwaltungsbeamte. Die verfügbaren Lehrkräfte sollten als Jugendbetreuer eingesetzt werden, die „die Jugendlichen auf den Straßen und Plätzen“ beobachten, „die Ausgelassenheiten“ ahnden und „größere Vergehen“ melden sollten. Jugendliche ab 14 Jahren wären zur Arbeit heranzuziehen. Voraussatzung hierzu wäre die Inbetriebnahme der Fabriken gewesen, die überwiegend stillstanden. Dazu „müssten unbedingt die Kindergärten wieder geöffnet werden, da für [die Kleinkinder] in den belebten Straßen große Gefahr für das Leben“ bestehe.

Nicht nur Schulen und Kindergärten waren ersatzlos geschlossen, auch um die Versorgungslage war es sehr schlecht bestellt. Nicht nur hier, überall im vom Krieg geschundenen Europa. Unter Punkt 4 heißt es, „um das Drängen und Treiben bei den Ess- und Verpflegungsstellen der Soldaten zu unterbinden, macht das Jugendamt den Vorschlag, die Überbleibsel gesammelt dem Jugendamt zur gerechten Verteilung an die Kinder zur Verfügung zu stellen.“ Lebensmitteldepots und Militärküchen waren teils strengstens bewacht, doch die jungen Stolberger erhielten Überreste in ihre mitgebrachten „Eimer, Kännchen und sonstigen Geschirre“. Punkt 5 befasste sich mit „jungen hoffenden Müttern und ihren unehelichen Säuglingen“, die hilfebedürftig waren. Man schlug das Rolandshaus an der Steinfeldstraße vor, das zum „Beergarden“ durch die US-Behörde umfunktioniert war. Garten und ruhige Lage hatten sowohl Jugendamt als auch US-Militärs als erholsames Refugium erkannt.

Inklusive einer zwanzig-köpfigen Liste an Lehrerinnen und Lehrern sandte Bürgermeister Fritz Deutzmann das Anliegen unter dem Betreff „Proposal to finish the neglecting oft he youth“ ans Aachener Hauptquartier. Am 12. März erfolgte die Antwort durch 1st Lieutenant William J. Dodd. Man möge sich mit dem Landrat in der Angelegenheit beraten. Aber „under no circumstances will you open any schools until written permission from this office is given you“ (Unter keinen Umständen werden Sie irgendeine Schule ohne schriftliche Genehmigung von dieser Behörde öffnen). Die klare Absage an Schulöffnungen hatte auch als Hintergrund, dass noch keine Lehrkraft bezüglich ihrer NS-Tätigkeit geprüft war. Die Entnazifizierung sollte noch folgen, aber die Schüler erhielten tatsächlich ab April eine pädagogische Betreuung. Die Grüntalschule, die Deutzmann bis 1933 als Rektor leitete, bevor er von den Nazis degradiert und (straf)versetzt wurde, öffnete als erste Schule des Landkreises Aachen am 7. Juli 1945. Kurz darauf wurde Deutzmann zum Aufbau des Schulwesens an die Aachener Bezirksregierung berufen. Der Krieg war aus, der Wiederaufbau begann.

Hinweis: Das Archivale des Monats wird am 19. des Monats auf dem Facebook-Account der Kupferstadt Stolberg veröffentlicht.

Bild: Kupferstadt Stolberg