RWTH

Der Soziologe Professor Stefan Böschen lehrt am HumTec der RWTH Aachen das Fach Technik und Gesellschaft. Er sprach mit Thorsten Karbach, Leiter des Dezernats Presse und Kommunikation der RWTH, über das Realexperiment Coronakrise, über die Handlungsfähigkeit der Politik und notwendiges Expertenwissen.

Foto: Peter Winandy

Der Soziologe Stefan Böschen ist seit 2018 Universitätsprofessor an der RWTH Aachen

 

Wie erleben Sie als Soziologe diese Zeit, in der die Welt zu einem Reallabor wurde?

Böschen: Was wir in diesen Wochen und Monaten erleben, kann als Experimentieren mit sozialen Voraussetzungen und sozialen Situationen beschrieben werden. Die Kontaktsperre ist ein weitgehender von einer Fülle von Eingriffen, selbst Familien konnten sich nicht sehen. Auch die Versammlungs- und Religionsfreiheit sind Grundrechte. Für meinen Vater war es ein weitreichender Einschnitt, keinen Oster-gottesdienst erleben zu können. Unsere Alltagspraktiken wurden eingeschränkt, und es ist bemerkenswert, wie stark Menschen in dieser Situation Folgebereitschaft an den Tag legten. Dazu empfinde ich eine gewisse Ambivalenz.

Inwiefern?

Böschen: Der überwiegende Teil der Bevölkerung verhält sich diszipliniert und sagt: Diese Maßnahmen sind sinnvoll, das müssen wir jetzt machen. Ich habe aber auch Unbehagen darüber, wie leicht sich das umsetzen ließ. Zumal wir in anderen Ländern der Europäischen Union beobachten, dass diese Krise zum Anlass genommen wurde, um weitreichende Maßnahmen zur Stärkung eines autoritären Regimes durchzusetzen. Aus Ungarn und Polen kamen keine guten Nachrichten! Das bringt mich zu einem entscheidenden Punkt.

Welchen Punkt meinen Sie?

Böschen: Der Punkt, dass dieses Realexperiment immer auch ein Experiment mit den politischen Voraussetzungen sozialer Ordnungen ist. Kulturelle soziale Ordnungen sind verschieden und reagieren unterschiedlich: Wie haben es die Chinesen gemacht? Wie hat Singapur reagiert? Welche Reaktion gab es in Südkorea? Was lief in Italien und Spanien anders, dass sich die Lage dort so dramatisch zu-spitzte? Das ist ein kompliziertes Geflecht von Fragen, es greifen unterschiedliche gesellschaftliche Teilbereiche ineinander wie Ökonomie, Öffentlichkeit, Wissenschaft, Recht. Die Frage, wie staatliche Politik und Kontrolle durchgreifen kann, soll oder nicht soll, erhält einen besonderen Stellenwert.

Erwarten Sie in Deutschland einen gesellschaftlichen Druck, etwa den Pflegebereich neu aufzustellen?

Böschen: Wie oft wurde schon von einem Pflegenotstand gesprochen? Sind wir als Gemeinschaft bereit, diesen Bereich nach der Krise neu aufzustellen? Können und wollen wir Puffer einbauen, damit Strukturen stabiler sind und hohen Anforderungen standhalten können?

Dies gilt auch für Liefer- und Produktionsketten bestimmter Produkte, wie die Abhängigkeit von Saisonarbeitern in der Landwirtschaft zeigt. Wir brauchen mehr als das Klatschen im Bundestag für systemrelevante Dienstleistungen. Es müssen Taten folgen und Puffer geschaffen werden, auch wenn dies nicht kosteneffizient ist.

Was für Taten?

Böschen: Sind Gesellschaften bereit, aus dieser Krise zu lernen? Und werden sie Selbstverständlichkeiten auf den Prüfstand stellen? Es ist zum Beispiel eine un-glaubliche Wendung, dass die USA den Sozialstaat entdecken und zwei Billionen US-Dollar investieren. Das ist bemerkenswert und auch verstörend - man glaubt, dass ein Sozialstaat auf die Schnelle etabliert werden kann - daran arbeiten wir in Europa seit 150 Jahren.

Soll das heißen, es kann kein „Weiter so wie vor der Krise“ geben?

Böschen: Das wäre uns allen zu wünschen. Ich weiß nicht, ob es raumgreifende Veränderungen gibt. Uns wurde die Abhängigkeit von der Globalisierung vor Augen geführt. Es zeigte sich, dass eine rein auf ökonomische Effizienz aufgebaute soziale Ordnung ihre Grenzen hat. Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens ist der falsche Weg, aber werden wir einen anderen finden? Eine Krise kann sinnstiftend sein. Sie lässt uns lernen, sie schafft Solidarität. Sie lässt uns erfahren, dass Politik nicht so handlungsunfähig ist, wie es sonst oftmals, etwa in der Flüchtlingsfrage, suggeriert wird. Politik ist sehr handlungsfähig - das stimmt zuversichtlich.

Wir können diese Krise also als große Chance betrachten?

Böschen: Es können neue Denkwege beschritten und damit Möglichkeiten zur Weiterentwicklung geschaffen werden. Ich möchte aber nicht von Chance sprechen, denn damit geht ein Bild kalkulatorischen Abwägens einher. Um was es geht, ist die Schulung unseres Möglichkeitssinns. Wir müssen nun zeigen, dass und wie wir als Gesellschaft lernen wollen. Es muss in Zukunft ein Leben mit dem Virus ge-ben.

Wie können wir Restaurants betreiben in Zeiten von Corona? Wie können wir ins Kino oder Theater gehen? Da sind gute Ideen nötig. Es ist wichtig, künftig soziale Kreativität freizusetzen, um aus unserem starren Regime der Sozialdistanzierung herauszukommen und soziale Interaktion zu ermöglichen, auch wenn das Virus weiterhin präsent ist.

Welche Rolle nimmt vor dem Hintergrund der aktuellen Geschehnisse die wissenschaftliche Expertise auch in der Meinungsbildung ein?

Böschen: Der britische Soziologe Anthony Giddens hat moderne Gesellschaften dadurch gekennzeichnet, dass sie Expertensysteme ausbilden. Wir konnten nun beobachten, dass die Expertise weniger öffentlich umstritten ist. Es fiel auf, dass Virologen sehr präsent und erste Adresse für alle Gespräche wurden.

Aber welche Rolle spielten die Juristen oder Psychologen? Wo sind die Pädagogen oder wir Soziologen? Wir sehen die Effekte des virologischen Regimes auf die Ge-sellschaft. Zum Beispiel, dass häusliche Gewalt zunimmt. Was wir beobachten, ist ein Realexperiment und das ist mehr als das Experiment von uns mit einem Virus, sondern auch anders herum: das Virus experimentiert mit uns.

Welche aktive Rolle muss Wissenschaft an dieser Stelle einnehmen?

Böschen: Die Wissenschaft muss in ihrer ganzen Bandbreite zur Wirkung kommen. Für mich ist relevant, wie soziales Leben mit dem Virus möglich ist und wie sich Normalität entwickelt. Universitäten müssen als Transformationsakteure eine Vorreiterrolle einnehmen. Das Vertrauen in diese Institutionen ist sehr hoch, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wird grundsätzlich Gehör geschenkt.

In der Klimaschutzdebatte werden wissenschaftlichen Erkenntnisse aber oftmals in Frage gestellt…

Böschen: Mit dem Corona-Virus steht ein unmittelbares Risiko für viele Menschen im Raum - jeden kann es treffen. Deswegen wird Experten in hohem Maße ge-glaubt, wenn sie uns Maßnahmen aufzeigen. Beim Thema Klimawandel ist das an-ders.

Da sehen wir zwar Effekte, die absolute Bedrohung ist aber nicht so deutlich wie bei diesem Virus. Wer die Bilder aus einem Krankenhaus in Bergamo oder von einer Beerdigung in Italien sieht, und dann noch behauptet, das Virus sei ungefährlich, der muss enorme Fähigkeiten zur Ausblendung haben. Aber der Klimawandel trifft nicht jeden derart offensichtlich.